Dieter Rahn
Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei
Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons
Mittenwald : Mäander 1982
Umriß des Themas
Der Maler André Masson kommt einer philosophischen Beschäftigung entgegen, weil er die Kunstproduktion mit einer ausgedehnten literarischen Tätigkeit zu Fragen der Geschichte und Philosophie der Kunst verbindet. Mit seiner Beteiligung am modernen Kunstschaffen und mit seinen Beiträgen zur "Hermeneutik" der Kunstüberlieferung schließt er sich den anfänglichen Intentionen des Surrealismus an. Die Beschäftigung mit ihm verspricht daher Aufschluß
a) über die Rolle der bildenden Kunst in der Gesellschaftskritik des Surrealismus und
b) über den Ort, der der Kunst im Verhältnis zur Wirklichkeit überhaupt zuzusprechen ist.
Massons Kritik am neuzeitlichen "Bild"-Begriff wird als Kritik an den modernen Wirklichkeits- und Handelnsnormen sichtbar. Masson zeigt z.B., daß die Malerei Cézannes, ähnlich wie die des chinesischen Zenbuddhismus, ein ausgezeichneter Vorgang im Verhältnis des Menschen zur Natur ist und dies gerade in einer Weise, die von aller abbildhaft-mimetischen Konzeption von Kunst weit entfernt ist.
Die kategorialen Titel "Raum" und "Zeit" beziehen sich auf eine Alternative, die sich von zentralen Phänomenen der Kunst aus gegenüber der Wirklichkeitskonzeption des modernen Zeitalters darstellt. Gegenüber dem cartesianischen Verständnis des Raumes als extensio und dem davon abgeleiteten Verständnis der Bewegung als gesetzlich faßbarer Ortsveränderung stellt sich für Masson der genuine malerische Raum erst als die Folge der Bewegung dar, einer Bewegung allerdings, die als ein Ineinanderspielen der verschiedenen Elemente sowohl beim Kunstschaffen als auch beim Rezipieren verstanden werden muß.
Die Bedeutung der Farbe im Verhältnis des Menschen zur Natur bei Monet, Farbe als Raum bei Cézanne, Raum als Spiel in der Tuschemalerei der Sung-Zeit, das sind Gegenpole zu einem cartesianisch instrumentalen Verständnis des Raumes, das in den Augen Massons der "Weltausbeutung" dient. Gegenüber einem Verständnis des Raumes als Substanz wird die Zeit wichtig. Dabei zeigt sich der Zeitbezug in einer doppelten Weise. Einmal als die Zeitstruktur der Malerei selbst (Masson will die Bewegung malen, nicht das Objekt), und dann als Folge dieser Zeitstruktur die eigene Zeitkritik seiner Malerei. Massons Malerei ist Gegenwartskritik, nicht Ausdruck seiner Epoche.
Das Zugleich von Autonomie und Wirklichkeitsbezug manifestiert sich in seinem Verständnis des Automatismus, der bei ihm kein Schritt vom Bewußten zum Unbewußten ist, sondern die Zuwendung zur "spielerischen", die Fülle des Augenblicks erreichenden Weltoffenheit. Die Zeitlichkeit ist hier nicht als lineares Fortschreiten aufgefaßt, vielmehr als erfüllte Gegenwärtigkeit.
Das Zugleich von Autonomie und Wirklichkeitsbezug kann an den Wandlungen im Verhältnis zwischen Kunst und Politik bei Masson erläutert werden und auch an seiner Konzeption des Verhältnisses von Bild und Betrachter, in der sich ein Ansatz zur Überwindung des "Werk"-Begriffes von Kunst bemerkbar macht.